Gotteslästerung oder Schrei der Verzweifelung?
Die Zeitungslektüre Jacques Sternberg
Gott sieht selbstverständlich nicht alles, wie viele leichtgläubige Geister glauben.
Da er aber ein neugieriges Wesen ist und die Menschen nur geschaffen hatte, um zuzuschauen, wie sie sich erregen, ängstigen, beneiden, sich hassen bis sie einander umbringen, so hat er sich im Himmel immer dafür interessiert, ohne Mitleid und ohne ein Quentchen Mitgefühl, was auf dieser Erde -seiner Lieblingsschöpfung- vor sich geht. Diese Welt, die er keinesfalls aus dem Blick lassen wollte, denn die Verrücktheit, der verheerende Wahnsinn und die Geistesgestörtheit nahmen in Laufe der Jahrhunderte immer weiter zu und übertrafen dabei alle seine Erwartungen.
Und die Erfindung des Buchdrucks hatte sein ganzes Leben verändert.
Er verbrachte nun seine ganze Zeit damit, alle die wohlinformierten Journale zu lesen, die täglich auf seinem Lieblingsplaneten erschienen. Und was er in einen fort zu sehen bekam, setzte ihn in Erstaunen, überraschte ihn sogar, ihn, der sich schon immer für den Erfinder des Sadismus und für den Großmeister der Gewalt und der Rache, des Rassismus und der Intoleranz gehalten hatte. Warum deswegen wirklich verärgert sein, weil doch so sein Interesse häufig neu belebt wurde: Dieser menschliche Wurm, den er so ziemlich beiläufig geschaffen hatte, hat ihn selbst übertroffen, und seinerseits eine Welt von Psychopathen geschaffen, ein gigantisches Konzentrationslager übersät mit Gaskammern und Leichenhaufen, Folterkammern und Gefängnissen, elektrischen Stühlen und Erschießungspfosten. Eine Welt, wo man sich in Kriegszeiten im großen Stil massakriert, und im Frieden dauerhaft im kleinen, mit einem Einfallsreichtum, das ohne Ende zunimmt, eine Ausgeklügeltheit der Grausamkeit, die sich immer mehr als unkontrollierbar erweist.
Nachdem er sein Selbstbewußtsein etwas zurückgestellt hatte, konnte Gott doch mit sich zufrieden sein: Er hatte zu jeder Zeit Sinn für schwarzen Humor im höchsten Maß bewiesen, und indem er den Menschen zur einzigen Kreatur mit Vorstellungskraft machte, hatte er seine Absicht nicht verfehlt.
La lecture
J. St., Contes griffus, Paris: Denoël, 1993. ©Editions Denoël.
(Aus dem Französischen, D. von der Linde)
JACQUES STERNBERG
Geboren 1923 in Antwerpen (Belgien) als Sohn einer jüdischen Diamantenhändlerfamilie. Ohne abgeschlossene Schulbildung und ohne geregelte Berufsausbildung ist er bis heute ein Sonderling in der französischsprachigen Gegenwartsliteratur geblieben. Nach der Flucht der Familie in die freie Zone Südfrankreichs ereilte ihn dennoch das Schicksal zahlreicher Landsleute: Gefängnis, Internierungslager in Frankreich und Spanien bis zur Deportation nach Auschwitz (1942-45), wo sein Vater umgekommen ist, während der Sohn das KZ-Grauen überlebt hat.
Luther Rechtfertigungslehre ist nicht unumstritten. Welchen Einfluss auf meinen eigenen Willen habe ich noch, wenn Gott doch alles vorherbestimmt, und alles was ich tue geschieht mit Gottes Billigung. Erasmus von Rotterdam spricht vom freien Willen. Ich weiß, dass Luther wie oben angeführt seine eigene Meinung hatte. Doch diese Meinung halte ich für gefährlich, denn wenn ich mich auf Luther berufe, kann ich ja eigentlich nichts für meine Verhalten, egal ob gut oder böse. Ich glaube, damit macht man es sich zu einfach. Denn dann kann ich alle Verantwortung auf Gott schieben, der es ja so vorausgesehen und bestimmt hat. Bei Erasmus aber bin ich selbst verantwortlich auf Grund meines freien Willens.