»Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt«. Dies ist das höchste und erste Gebot. Das andere aber ist dem gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (Matthäus 22, 37–39). Das ist die Antwort Jesu auf die Frage eines Pharisäers, welches denn das höchste Gebot im Gesetz sei. Mit diesem doppelten Gebot stellt Jesus die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten nebeneinander auf die gleiche Stufe. Aber wie kann der Mensch dieser Forderung genügen, Gott “von ganzem Herzen, von ganzer Seele und ganzem Gemüt“ lieben, Gott, der doch unfassbar, unbegreiflich, unergründlich ist, und von dem wir uns kein Bild und kein Gleichnis machen sollen?
Scheinbar leichter zu verstehen ist die Liebe, die im zweiten, sich auf den Nächsten, den Mitmenschen, beziehenden Teil des Gebots gefordert wird. In einem kürzlich erschienenen Presseartikel über das Verhalten der Menschen in der Corona-Krise wurde Nächstenliebe ganz unpathetisch beschrieben als ein Handeln, das die Not des Anderen lindert oder abwendet. Doch beim Bemühen um ein tieferes Verständnis des biblischen Liebesgebots muss man berücksichtigen, dass der Begriff “Liebe“ heute stark emotional aufgeladen ist, aber auf der anderen Seite oft ganz und gar gedankenlos verwendet wird. Verschleiß und Abnutzung des Begriffs sind die Folge. Deshalb muss man sagen oder fragen, was genau gemeint ist, wenn von Liebe gesprochen wird.
Solange die Beziehung zwischen Menschen gemeint ist, fällt es nicht schwer, Beispiele, Muster, Vorbilder anzugeben, um deutlich zu machen, was wir unter Liebe verstehen wollen. So erkennen wir in Liebe in einer Handlungsweise, welche dem Anderen Gutes tut, dem Anderen gut ist. “Ich bin dir gut“ sagt Faust zu Gretchen und will so seine Liebe erklären (womit er der eigentlichen Frage Gretchens ausweicht). Einander Gutes tun, sich Freude bereiten, einander nahe sein wollen sind Verhaltensweisen und Gefühle, wie sich menschliche Liebe kundtut. Unerfüllte Liebe mag einhergehen mit Gefühlen des Mangels, des Verlangens, des Begehrens, des Besitzenwollens. Paulus hat Wesenszüge menschlicher Liebe in wunderbarer Weise im Hohelied der Liebe (1. Korinther 1-13) beschrieben.
Deutlich schwieriger wird es, wenn wir uns dem Gebot der Gottesliebe zuwenden. Es liegt nahe, dass Menschen vom profanen Verständnis von Liebe ausgehen, und das, was die menschlichen Beziehungen ausmacht, auch auf die Beziehung zu Gott übertragen. Es wird ein menschliches Wunschbild Gottes geschaffen, in dem im äußersten Fall Gott als eine Art “Supermanager“ der Welt betrachtet wird, mit dem man aber trotzdem über alles reden kann, fast wie mit dem Stammtischbruder von nebenan. Zwar geht einiges schief in der Welt und im Leben, aber man muss eben auch bereit sein, dem lieben Gott zu verzeihen, ebenso wie man seinem Kumpel nicht ewig alles nachträgt. Die Beziehung zu diesem Gott prägen Gefühle, die denen zwischen Menschen ähnlich sind. Herz, Seele und Gemüt finden auf diese Weise zwanglos ihren Platz in dieser Gottesbeziehung.
Liebe, Gottesliebe, bekommt eine ganz andere Bedeutung, wenn uns bewusst wird, dass Jesus in seiner Antwort sich auf Moses bezieht (5. Moses 6, 4 – 5, 5. Moses 10, 12 -13). Bei Moses und im Alten Testament ist die Liebesbeziehung zwischen Gott und Mensch asymmetrisch und hierarchisch, eine Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschten. Gott und Mensch begegnen sich hier nicht auf Augenhöhe. Die Menschen erweisen ihre Liebe zu Gott durch Ehrfurcht und Verehrung, durch Gehorsam und Dienen und vor allem dadurch, dass sie „keine anderen Götter haben“. Gottes Liebe zu den Menschen, andererseits, ist recht bildhaft beschrieben in 5. Moses 6, 15: “Der HERR, euer Gott, ist ein leidenschaftlich liebender Gott, der von euch ungeteilte Liebe erwartet; wenn ihr ihm nicht treu bleibt, fordert ihr seinen Zorn heraus und er wird euch ausrotten“(Gute Nachricht Bibel).
Ein Spannungsfeld zwischen “Gottesliebe“ und “Gottesfurcht“ wird auch noch bei Luther im “Kleinen Katechismus“ deutlich sichtbar, wo er seine Erklärungen zu den Zehn Geboten jeweils mit dem Satz einleitet: „Wir sollen Gott lieben und fürchten…“. Können wir heute dieses Spannungsfeld als entschärft betrachten, aufgehoben durch Gottes bedingungslose Liebe und Barmherzigkeit? Oder folgen wir damit im Grunde einem eigenen Wunschbild, in dem durch die Liebe alle Konflikte aufgelöst werden?
Vielleicht müssen wir uns stets von Neuem bewusst machen, dass die Beziehung zu Gott radikal anders ist als Beziehungen zwischen Menschen. Zwar gebrauchen wir immer wieder Bilder und Vergleiche, müssen diese gebrauchen, weil wir nichts anderes haben. Die Bilder zeigen aber jeweils nur einen kleinen Ausschnitt, einen begrenzten Aspekt und nicht selten widersprechen sie einander. Wir können nicht anders als unsere irdischen Maßstäbe anlegen und menschlichen Kriterien gebrauchen, müssen aber wissen, dass wir damit sehr bald an Grenzen stoßen.
Tja, ich kann dem nur zustimmen. Ich habe mich auch immer wieder gefragt, wie man Gott lieben kann. Zunächst einmal - wie ich es kennen gelernt habe -, weil er ja eben unsichtbar und in enormer Distanz ist. Und später dann, weil mir immer klarer wurde, dass Gott keine Person ist, so wie er vor allem im Alten Testament dargestellt wird.
Ich kann heute nur unter der "Liebe zu Gott" eine Lebenshaltung verstehen, in der ich mich dem Leben und den anderen Menschen und nicht zuletzt mir selbst gegenüber so verhalte, wie es der Ehrfurcht vor allem Bestehende entspricht.